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Christof Totschnig
Schlafes Bruder - Fragen nach der Erfolgsmasche eines schlechten Buchs
präsentiert im Rahmen der "V Jornadas de Filología Alemana" an der Universität Oviedo im Mai 1998
Erschienen: Juli 2001
Empfohlene Zitierweise:

Christof Totschnig: Schlafes Bruder - Fragen nach der Erfolgsmasche eines schlechten Buchs (Juli 2001), in: g-daf-es <http://www.g-daf-es.net/lesen_und_sehen/texte/ct3.htm>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter die URL-Angabe in runde Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.

1. Einleitung

Der Roman Schlafes Bruder des Vorarlberger Autors Robert Schneider, 1992 bei Reclam in Leipzig erschienen, fand in den letzten Jahren so viele Käufer wie kaum ein anderes Buch eines deutschsprachigen Autors in den letzten Jahrzehnten. Eine von den mehr als eine Million Käufern des Buchs war eine Bekannte von mir, Deutschlehrerin an einem Wiener Gymnasium, grünbewegt und mit einer Schlagseite zu Esoterischem, die mir vor einigen Jahren das Buch überschwänglich empfahl. Sie borgte mir ihr Exemplar, das dann bald ungelesen auf meinem Bücherregal in Vergessenheit geriet - die Begeisterung meiner Bekannten, die ich in Fragen des literarischen Geschmacks nicht unbedingt auf meiner Wellenlänge wußte, aber auch der Tiefsinn ankündigende Titel und das holde Knabengesicht auf dem Cover mögen mich skeptisch gemacht haben.

Anfang dieses Jahres stieß ich auf eine Rezension des neuesten Romans von Robert Schneider in der "Neuen Zürcher Zeitung". Zu Beginn seiner Besprechung von Die Luftgängerin verlor der Journalist, Andreas Breitenstein, einige Worte über Schlafes Bruder. Das Frappierende am Bestsellererfolg des Buchs sah er weniger in der "Illusionsbereitschaft, mit der sich ein emotional bedürftiges Massenpublikum am x-ten Aufguß von Dorfhölle und Bergeshöh, Genie und Wahnsinn, unerfüllter Liebe und Tod berauschte", sondern in der "Besinnungslosigkeit eines überwiegenden Teils der Kritik, die das Buch als literarischen Wurf feierte".1 Daß Robert Schneider für sein Buch massig Kritikerlob eingeheimst hatte, war mir neu. Ich wollte mir nun doch ein eigenes Urteil über Schlafes Bruder bilden, nachdem ich es damals, als mir meine Bekannte das Buch empfahl, bei einem Vor-Urteil belassen hatte. Ich besorgte mir das Buch, las es und fand es ein Ärgernis. Mein Widerwille gegenüber Schneiders Text kristallisierte zu zwei Fragen, um die es in diesem Beitrag gehen soll: Zum einen die Frage, wie sich der Erfolg des in meinen Ohren falsch und hohl tönenden Machwerks bei meiner "emotional bedürftigen" Bekannten wie bei maßgeblichen Instanzen der Literaturkritik und Meinungsbildung erklären läßt, zum anderen die Frage, welche Texteigenschaften im einzelnen mich den Gesamteindruck haben gewinnen lassen, daß der Roman, mit Lessing gesprochen, eine Sache von Schere und Kleister ist, und sein Autor nichts zu sagen hat.

2. Warum das Buch erfolgreich ist

Schlafes Bruder erzählt allerhand "Unglaubliches", "Unerhörtes": Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird einer Bauernfamilie in einem von Inzest, Hexenwahn, Lynchjustiz und anderen menschlichen Schlechtigkeiten gezeichneten Bergkaff in Vorarlberg ein Wunderkind geboren: nachdem schon bei Geburt und Taufe einiges auf musikalisches Genie hingedeutet hat, widerfährt dem Buben Elias mit fünf ein "Hörwunder", das ihn das ganze Universum einschließlich den Herzschlag der noch ungeborenen Elsbeth hören läßt; er läßt sich nächtens in der Dorfkirche einsperren und bringt sich das Orgelspiel und das Komponieren bei, mit 17 ist er Dorforganist und verblüfft allsonntäglich das dumpfe Bauernvolk mit seiner "genialen" Musik, mit 22 tritt er als Autodidakt zu einem Wettorgeln in der Stadt an und gewinnt mit Abstand. Hiermit kommt Elias' Karriere zu ihrem Ende, denn er ist nicht nur genialer Musiker, sondern auch großer Liebender: den "Klang der Liebe", das Herzklopfen Elsbeths, die ihm "seit Ewigkeit vorbestimmt ist", vernimmt er zum ersten Mal anläßlich des Hörwunders, ein weiteres Mal gerade rechtzeitig, um das Kind bei einer der zahlreichen Feuerkatastrophen aus dem brennenden Elternhaus zu retten. Trotz aller "ans Unmenschliche grenzenden Kraft und Leidenschaft", mit der er das Mädchen liebt, wagt er es nicht, ihr seine Zuneigung zu gestehen, wird von Liebeskummer aufs Bett geworfen, muß miterleben, wie Elsbeth einen anderen nimmt. Elias fühlt sich von Gott betrogen und sagt sich fürs erste mal von ihm los, was diesen nicht davon abhält, ihn zwischenzeitlich von der Liebe zu erlösen. Elias versucht es, da die "hoffnungsloseste Leidenschaft leichter zu ertragen ist als keine Leidenschaft", ein letztes Mal mit der Liebe und tatsächlich vernimmt er beim Wettorgeln wieder Elsbeths Herzschlag. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ist jedoch schon überschritten und Elias vom Vorsatz, eine Art Liebesmärtyrertod durch Schlafentzug zu sterben - denn "wer schläft, liebt nicht" - nicht mehr abzubringen. So erfüllt sich denn das vom allwissenden Erzähler postulierte "ungeheuerliche Gesetz, wonach eine jede Liebe immer in den Tod führt", und auch der Kleistsche Anfangssatz, der dem Leser die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder verspricht, "der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen" wird zu guter Letzt doch noch eingelöst.

Was mag meine Bekannten, die hier die Hunderttausenden begeisterter nicht-professioneller Leser vertreten soll, beeindruckt haben? Zum Bestsellererfolg ließ Schlafes Bruder wohl der Zusammenfall inhaltlicher, stilistischer und ideologischer Faktoren werden. Im Inhaltlichen wird das Grundrezept "Geschichte einer unerfüllten, tragisch endenden Liebe", das man schon kennt und das ein entlastendes Déjà-lu besorgt2, mit allerhand Neuem, in der sich selbst bewerbenden Sprache des Romans "Unerhörtem", "Spektakulärem" angereichert: spektakulär ist der Reichtum an Attributen, die dem Helden des Romans zugeschrieben werden: großer Liebender, musikalisches Genie, physiologisches Wunder, Franz-von-Assissi-Epigone, von Gott heimgesuchter Hiob, Prophet der Beseeltheit der Welt, Märtyrer der Liebe. Daß aus solcher textuellen Alchemie in der Vorstellung des Lesers, in meiner zumindest, keine Romanfigur entsteht, soll hier noch nicht interessieren. Spektakulär-exotisch ist der Schauplatz der Liebesgeschichte: die Lichtgestalt des Protagonisten gewinnt ihre Strahlkraft so richtig erst vor dem Hintergrund des Bergdorfs, in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch dunkles Mittelalter herrscht: alte Weiblein landen auf dem Scheiterhaufen, Eltern glauben ihre Kinder vom Teufel besessen, Neid, Bosheit, Menschen- und Tierquälerei allerorten. Das Bild eines Vorarlberger Sodom und Gomorrha wird dem Leser in handlichen Episoden, die ihm auch saftige Details wie "aus dem Schädel eines Kindes hervorquellendes Hirn" oder die "Vollbehaartheit" der Scham der Dorfhure nicht schuldig bleiben, serviert.

Nicht nur die episodische Struktur ermöglicht die Konsumierung des Buchs ohne allzu große intellektuelle Anstrengung. Der Erzähler hält sich an die Chronologie der Ereignisse, liefert in seinen Interventionen die Interpretation des Erzählten gleich mit, hält den Leser mit Vorgriffen und Versprechen, daß es auf den nächsten Seiten wieder "Unglaubliches" zu lesen gibt, daß am Ende des Buchs ein spektakulärer Tod auf ihn wartet, bei der Stange, erspart ihm kompliziertere syntaktische Strukturen.

Die Machart des Romans ermöglicht dem Leser aber nicht nur eine passive Konsumentenhaltung, sie zielt auch darauf ab, ihn im seiner Selbstachtung förderlichen Glauben zu wiegen, daß er etwas Besonderes, wertvolle Literatur, ein Sprachkunstwerk konsumiert: der archaisierende Duktus, Neologismen, hin und wieder eingestreute Synästhesien scheinen, wie noch gezeigt werden wird, allein diesem Zweck zu dienen. Und wenn der Erzähler auf Seite 62 über von seinem Helden nicht komponierte Streichquartette, "flüchtig hingeworfene Chorfugen", "torsohafte Sonatenhauptsätze" in Begeisterung gerät, enthüllt sich auch die Hauptfunktion der im Roman ausgebreiteten musikalischen Termini: den vor diesem prestigeträchtigen Bildungsgut ehrfürchigen Leser zu verblüffen.

Neben Exotik und Mysterien im Inhaltlichen und dem offensichtlich gelungenen Spagat zwischen Lesekomfort und Kunstanspruch im Stilistischen mag vor allem auch die Botschaft des Romans, sein ideologischer Gehalt ein Massenpublikum bestrickt haben: in der überschaubaren Welt des Romans walten noch die großen, Sinn (hin und wieder auch Unsinn) stiftenden Instanzen "Gott" und "Natur", und "die Liebe" führt noch den bestimmten Artikel. Der Leser, die Leserin, die das Identifikationsangebot des extrem individualisierten Helden annehmen, können ans "Unmenschliche grenzende" große Emotionen mitempfinden. Und die für den Protagonisten maßgebliche, in Zeiten kalter Rationalität gern vernommene Lebenslehre "Geh, wohin das Herz dich trägt" wird ihnen auch durch die suizidale Endstation nicht in Mißkredit geraten. Dafür tragen schon die Anklänge an Jesu Tod zum Ende des Romans Sorge. Schlafes Bruder schlägt auf dem Klavier der Emotionen jedoch nicht nur, habe ich den Verdacht, die "reine, absolute" Liebe an, sondern auch ein weniger schönes Gefühl: hier der eine, eigentlich zu Großem, zu Weltruhm Berufene, dort die anderen, deren Neid, Gemeinheit, Idiotie den einen nicht zu seiner Bestimmung kommen lassen. Welcher Leser läßt sich nicht gern von dieser im Roman immer wieder bejammerten Konfrontation in seinem Verdacht bestätigen, daß auch er in einer anderen Welt, umgeben von anderen Menschen, nicht so schrecklich gewöhnlich, unberühmt geworden wäre? Neben der "großen Liebe" predigt Schlafes Bruder auch reichlich Ressentiment gegen den anderen.

Die Ingredienzien, die Schlafes Bruder zu einem leicht verdaubaren Unterhaltungsroman machen, sind aufgezählt. Was ihn im Unterschied zu anderen, mit Exotik, Action und Liebeskitsch in konsumentenfreundlicher Machart aufwartenden Romanen zu einem Verkaufserfolg gemacht hat, liegt wohl in seiner sprachlichen und thematischen Pretentiosität. In ihrer Streitschrift Des Kaisers neue Kleider. Schreiben in Zeiten der Postmoderne sieht Karin Fleischanderl Schneiders Roman als ein Produkt des midcult. Sie verweist auf Umberto Ecos Beschreibung dieses mit der Ausbildung einer breiten Mittelklasse verknüpften kulturellen Phänomens in seinen Studien zur Massenkultur aus den sechziger Jahren. Eco beschrieb den midcult als einen "Bastard des masscult, der als Korrumpierung der Hochkultur erscheint und ebenso wie der masscult den Wünschen des Publikums unterliegt, die Adressaten jedoch scheinbar einer privilegierten und schwierigen Erfahrung aussetzt".3 An dieser Suggestion sind im Fall von Schlafes Bruder die nach Auskunft des Autors aus Lutherdeutsch und Vorarlberger Dialekt zusammengerührte Kunstsprache4, der von Anbeginn, unter anderem mit Bibelversatzstücken, dick aufgetragene Heiligenschein um den Protagonisten und das Versprechen beteiligt, dem Leser Einblick ins Werden, Tun und Lassen eines musikalischen Genies zu gewähren.

Den Verkaufserfolg des Romans befördert haben sicherlich die zahlreichen positiven Besprechungen auf den Feuilletonseiten führender meinungsbildender Zeitungen, die, um im Bild zu bleiben, den Bastard zu einem legitimen Sohn erklärten. Allgemein wurden "die sprachliche Virtuosität" und der "perfekte Bau" des Romans gelobt, wurden Verbindungslinien zur südamerikanischen Phantastik, zum romantischen Künstlerroman, zur Tradition der Antiheimatliteratur von Franz Innerhofer und Josef Winkler, zum dämonischen Musiker in Thomas Manns Dr. Faustus gezogen. Die Liebesgeschichte wurde meist ausgeblendet, dafür das Leiden des Genies an der dumpfen, häßlichen Bauernwelt empathisch nacherzählt. So scheint sich Beatrice von Matt in der NZZ die Empörung des Erzählers, daß der liebe Gott ein Genie schuf, diesem dann aber Berühmtheit und Nachruhm vorenthielt (die "Genieproblematik" des Romans beschränkt sich darauf) zu eigen zu machen. Sie läßt den Protagonisten auch nicht einen Liebesmärtyrerfreitod sterben, sondern "an der gleichsam sprachlosen Übermacht seiner Kunst, die er nicht verwirklichen kann" ersticken.5 Diese, vom Text nicht gedeckte, Umdeutung des peinlichen Liebestodspektakels, das der Roman seinen Helden im Interesse der Effektmaximierung erleiden läßt, scheint mir typisch für den Umgang des Feuilletons mit Schlafes Bruder: vom Kitsch läßt es die Finger, dafür werden die im Roman herbeizitierten, aufgesetzten Motive der literarischen Tradition dankbar aufgegriffen und nobilitierende Gleichungen aufgestellt, die aus Eschberg Macondo machen, weil in einem letzten Kapitel die Vorarlberger Natur zum die menschliche Zivilisation verschlingenden Urwald wird, und aus dem Protagonisten wird in den Kritiken ein früher Adrian Leverkühn, weil er, nachdem er einer "silbern glänzenden Scham" angesichtig geworden ist, für einige Zeilen die Orgel mit der "Kraft des Dämonischen" spielt.

In den wenigen Rezensionen, die nicht in die allgemeine Begeisterung einstimmen wollten, war die Rede von "clever gemachtem Kunsthandwerk", bissiger von einem "schlau zusammengerührten postmodernen Süppchen".6 Daß der Roman bei genauerem Hinsehen tatsächlich in seine mehr oder weniger geschmackvollen Zutaten, sprich Episoden, Szenen, Sätze zerfällt, daß es mit der "sprachlichen Virtuosität" und dem "perfekten Bau" so weit nicht her ist, soll im folgenden anhand einiger Textmerkmale dargestellt werden.

3. Warum das Buch schlecht ist

Der Erzähler, den der Autor hin und wieder im Majestätsplural auftreten läßt, macht vom ersten Wort an klar, daß er nicht von dieser Welt ist, sondern aus einer, in der man noch nicht Selbstmord verübte, sondern "sein Leben zu Tode brachte", noch "Weiber gellen" hören konnte und die Genitivrektion von Verben noch in Blüte stand. Der Leser nimmt die fiktive Figur des Erzählers und dessen besondere zeitliche Koordinaten in den mit dem Autor geschlossenen Pakt auf und freut sich auf den ästhetischen Mehrwert, die Komplexität, die der Autor, wie der Leser glaubt, dadurch erzielen will, daß er seine Geschichte sich in einem Erzählerbewußtsein aus einer anderen Zeit brechen läßt. Doch statt Brechung gibt es im Roman nur Diffusion: einmal ist der Erzähler eines alttestamentarischen Fluchs fähig, dann erläutert er dem Leser die besondere physiologische Ausstattung seines Helden mit physikalischen Fachtermini wie "Ultraschall" und "Frequenz", weiß er einmal "akademisch" vom Gesetz der Imitation, das sein Wunderkind entdeckt hat, zu dozieren, tritt dann wieder in seinen Erläuterungen zum Geschehen eine Art schwarze Theologie, die einen bösen Gott für alles verantwortlich macht, an die Stelle der Wissenschaft.

Nicht nur in bezug auf Mentalität und Weltanschauung zerbröckelt die Erzählerinstanz. Gleiches passiert mit der Sprache, die der Autor seinem Erzähler in den Mund legt: den Chronisten aus dem 19. Jahrhundert, der die Zeit noch "währen", die Leute "sich davonheben" läßt und das Modalverb "mögen" besonders mag, verschlägt es immer wieder in den Alltagsjargon unserer Zeit. So stehen ein "viel betuscheltes Geheimnis" und das bürokratische Unwort "Inkrafttretung" neben "hochgestimmten Herzen" und "sich zum Ausgang rüstenden Weibern", alltägliche Satzanfänge wie "Das führte zum Ergebnis,...." neben weihnachtlichen wie "Es fügte sich,...". Die dem Roman nachgerühmte sprachliche Virtuosität entpuppt sich so als vom Autor betriebener stilistischer Jahrmarkt, auf dem er den Leuten ohne ästhetische Notwendigkeit hervorgekramten alten Plunder als "wahren", "besseren" Ausdruck andreht und reichlich modernen Sprachmüll der Sorte "masochistisch" und "zitterndes Gewissen" unter seine Ware mischt.7

Daß es dem Autor vor allem um die schnellen Effekte geht und daß dabei die Stimmigkeit des Ganzen auf der Strecke bleibt, wird auch am Einsatz der erlebten Rede augenscheinlich: dieses probate Mittel, dem Leser eine Figur, deren Innenwelt nahezubringen, kommt im Roman zweimal ausführlich zur Anwendung: so wird dem Leser zu Beginn des Romans über mehrere Seiten Einblick in die Gedankenwelt der Hebamme gewährt, die das Genie auf die Welt holen soll, und in einer anderen Szene, in der der Protagonist und seine Angebetete auf einem Fuhrwerk schweigend nebeneinander sitzen, erfährt man die putzigen Liebeserwägungen des Mädchens. Für die ach so reiche, schöne, turbulente Innenwelt seines Helden hat der Autor nur auktoriale Hohlformen oder Tautologien parat. Der Knabe schreit hinaus, was hinauszuschreien war, irgendwann wird nachgetragen, daß er den Schock seiner Kindheit nie verwunden hat und, besonders hohl, die "letzten Wochen im Leben dieses Mannes sind durchzogen von wüsten Phantasmagorien der Schuld und der Verzweiflung". Im Überblick über das Romanganze geben sich die beiden erwähnten Passagen in erlebter Rede, die gekonnt gemacht sind, als kunsthandwerklich verfertigte Einzelteile zu erkennen, deren Addition noch keinen Roman ergibt. Und wie das sprachliche Potpourri die literarische Figur des Erzählers von innen her auflöst, so verhindern auktoriale Gemeinplätze und psychologische Widersinnigkeiten, daß die Hauptfigur in der Vorstellung des Lesers zu mehr würde als zu einem intertextuellen Klon.

Eine gewichtige Zutat zum Roman ist die Beschreibung der sozialen Umwelt des Protagonisten. Ein in den Worten des Romans "grausamer Gott" hat das musikalische Genie in ein Vorarlberger Dorf geworfen, dessen Bewohner in zahlreichen Episoden vorgeführt werden. Diese Episoden haben dem Autor in einigen Kritiken den Ruf eingetragen, an die sozialkritische Antiheimatliteratur eines Franz Innerhofer anzuschließen - ein großes Mißverständnis: in Romanen wie Schöne Tage wird versucht, die körperlichen und seelischen Verkrüppelungen aus der Sozialstruktur auf dem Lande, aus der Ohnmacht der Knechte und Mägde gegenüber den Besitzenden zu erklären. So wird zum Beispiel die Sprachlosigkeit des "Gesindes" dem Redemonopol des Bauern und der den Status quo stützenden Kirche gegenübergestellt. Dem Autor von Schlafes Bruder geht es nicht um eine Erklärung des Elends, sondern um dessen effektheischende Zurschaustellung. Nichts eignet sich dazu besser als körperliche Merkwürdigkeiten. So läßt er den Leser in eine Schulstube voll mit "Wasserköpfen, Blatterngesichtern, Mongoloiden und Inzüchtigen" blicken, in der Kirche grölen "langschädlige, dicklippige" Bauern, während der senile Pfarrer Ostern und Weihnachten durcheinanderbringt. Derselben Schaubudenästhetik ist zu verdanken, daß in den Episoden kein grausiges Detail ausgespart wird, sei es eine Mutter, die die Zähne ihres zu Tode getrampelten Kindes auflesen und küssen muß, seien es die bis zum Knie in den Rumpf getriebenen Oberschenkel eines Verunglückten. Der Erzähler, der sich in Zynismus gegenüber seinem Dorfpersonal ergeht, stimmt dann aber, anläßlich einer Brandkatastrophe, das hohe Lied des Mitleids an und möchte "die vielen begleiten und ihren Kummer mit vager Hoffnung lindern" - womit die falschen Gefühle, von denen das Büchlein voll ist und denen die Hohlheit der verwendeten Sprachschablonen korrespondiert, den Grad der Unerträglichkeit erreichen.

4. Schlussbemerkungen

In Schlafes Bruder steht Mitleidspathos neben Sozialpornographie, Verachtung des anderen neben Liebesmystik, ein Faible für abgetrennte Gliedmaßen neben der Schwärmerei für "torsohafte Sonatenhauptsätze" - eine, möchte man meinen, unverdauliche Mischung. Daß der Autor damit dennoch offensichtlich den Geschmack sehr vieler Leser getroffen hat, kann einen zum Kulturpessimisten machen. Nach dem ästhetischen Brechreiz, den Schlafes Bruder einem verursacht, ist man des Gegenmittels guter Literatur, die die Arbeit an der Sprache, an den von ihr vermittelten Wahrnehmungsklischees ernst nimmt und dadurch den Blick des Lesers auf die Menschenwelt bereichert und korrigiert, doppelt bedürftig.

 

Anmerkungen

1. Andreas Breitenstein: Seelenschwulst. Robert Schneiders Roman "Die Luftgängerin". In: Neue Zürcher Zeitung, 10./11.1.1998

2. Vgl. Rainer Moritz: Nichts Halbherziges. Schlafes Bruder: das (Un-) Erklärliche eines Erfolges. In: Rainer Moritz (Hg.): Über "Schlafes Bruder". Materialien zu Robert Schneiders Roman. Leipzig, 1996, S.16

3. zitiert nach Karin Fleischanderl: Des Kaisers neue Kleider. Schreiben in Zeiten der Postmoderne. Wien, 1994, S.14

4. Vgl. Moritz (wie Anmerkung 2), S.20

5. Beatrice von Matt: Föhnstürme und Klangwetter. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.10.1992

6. Hans-Klaus Jungheinrich: Gouldgräberstimmung. Kultfiguren der gegenwärtigen Musikwahrnehmung. In: Frankfurter Rundschau, 16.11.1995

7. Vgl. dazu Fleischanderl (wie Anmerkung 3), S.94 ff


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letzte Aktualisierung: 80. März 2004
actualizada: 8 de marzo de 2004