zur startseitegermanistik und daf in spanien - germanística y alemán como lengua extranjera en españazur homepage der universität salamanca
lektorate - lectoradosprojekte - proyectoslesen und sehen - leer y verlinks - enlaceschancen - oportunidadesarchiv - archivosuche - buscar

Sie sind hier: Lesen & Sehen > Germanistik > Literaturwissenschaft und Literaturkritik

 
Michael Dobstadt
Die Literatur von Elisabeth Reichart
Ein Kommentar
Dieser Text ist in einer leicht veränderten Form und unter dem Titel "Gegen die eigenen hehren Postulate. Zu den Romanen von Elisabeth Reichart" in der Ausgabe Nr. 124 / Oktober 2001 der österreichischen Literaturzeitschrift Wespennest erschienen.
Erschienen: Mai 2001
Empfohlene Zitierweise:

Michael Dobstadt: Die Literatur von Elisabeth Reichart. Ein Kommentar (Mai 2001), in: g-daf-es <http://www.g-daf-es.net/lesen_und_sehen/texte/md1.htm>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter die URL-Angabe in runde Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.

Am 16. Mai erhielt Elisabeth Reichart den Anton-Wildgans-Preis - ein Ereignis, das zur Stellungnahme herausfordert. Elisabeth Reichart, promovierte Historikerin, ist eine von Preisen und Stipendien gesegnete österreichische Schriftstellerin, die in den achtziger Jahren mit ihrem Buch "Februarschatten" auch in Deutschland Erfolg hatte - das Buch behandelt ein in Österreich lange Zeit beschwiegenes Ereignis, die bestialische Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener bei Kriegsende, die sogenannte "Mühlviertler Hasenjagd". Danach veröffentlichte Elisabeth Reichart Texte, die sich aus feministischer Perspektive mit dem Geschlechterkonflikt befaßten - "Fotze", "Sakkorausch" -, zuletzt erschien von ihr "Das vergessene Lächeln der Amaterasu": Ein Roman über das Scheitern einer Beziehung zwischen einer österreichischen Malerin und einem japanischen Sänger, der sich, kaum daß die beiden in Japan leben, in ein gefühlskaltes Monster verwandelt. Die verdrängte NS-Vergangenheit und die Unterdrückung der Frau sind also die Themen, um die das Schreiben von Elisabeth Reichart im wesentlichen kreist. Ist diese - zweifellos achtbare - Themenwahl auch schon die Begründung für den relativen Erfolg von Elisabeth Reicharts Texten zumindest im österreichischen Kulturbetrieb? Man muß es annehmen, denn an der literarischen Qualität der Texte kann es kaum liegen. Die ist aufs Ganze gesehen bescheiden, streckenweise sogar mangelhaft. Einige Beispiele sollen das belegen. In "Februarschatten" etwa bildet die Rahmenhandlung die Auseinandersetzung zwischen Hilde, der von Schuldgefühlen geplagten Zeugin und - in Grenzen - sogar Teilnehmerin des Massakers, und ihrer Tochter Erika, die der verleugneten Wahrheit auf die Spur zu kommen sucht. Dabei werden Hildes Gedanken in einer Mischung aus erlebter Rede und inneren Monologen dem Leser präsentiert, zweifellos, um die inneren Konflikte Hildes zwischen dem Wunsch, zu vergessen, und dem Zwang, sich zu erinnern, besonders anschaulich werden zu lassen. Doch was dem ersten Leseeindruck als ungewöhnlich sensibel und achtungsvoll gegenüber den Nöten eines Opfers, das zugleich auch Täter ist, erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine Täuschung des Lesers und womöglich auch der Autorin - viel zu deutlich sind Hildes Gedanken, die ihr hoffnungslos falsches Bewußtsein artikulieren sollen, bis in die Wortwahl hinein nach dem Lehrbuch für kritischen Feminismus modelliert, um als authentisch durchgehen zu können: "Die Fragen der Tochter werden lästig. Wozu soll ich mich an meine Kindheit erinnern. Ich habe doch von klein auf gelernt: die einzige Möglichkeit zu überleben, ist zu vergessen." "Und womit hat die Tochter die Baracke ersetzt? Von der Baracke zum Bücherschreiben. Als ob das eine Lebensmöglichkeit für eine Frau wäre. Sie tut so, als gäbe es keine ungeschriebenen Gesetze für uns Frauen. Geht diesen Weg. Der nur eine schillernde Kugel ist. Die sie sich selbst aufgeblasen hat. Wie früher. Als Kind. In ihren Papierbergen wird sie ersticken. Dann ist es zu spät. Für den richtigen Weg. Für den Weg aller Frauen." Statt Respekt vor einer sperrigen, in sich verhärteten, letztlich unzugänglichen Subjektivität liegt genau das Gegenteil vor: Ein von der Erzählerstimme kolonisiertes Bewußtsein.

"Sakkorausch" ist der fiktive Monolog der Protofeministin Helene von Druskowitz, die in der patriarchalischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Anerkennung fand und schließlich in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Leider stammt "Sakkorausch" nicht aus den siebziger Jahren, sondern ist im Jahre 1994 veröffentlicht worden - um die Originalität seines Argumentes ist es damit schon nicht sonderlich gut bestellt. Nachgerade inakzeptabel ist jedoch, daß der Text nicht nur die bereits zurückliegenden Greuel der Weltgeschichte dem "Räuber und `Totschlägerī Mann" anlastet - diese Auffassung ist dem Bewußtsein der Hauptfigur zugeordnet und also zu relativieren -, sondern in diese Perspektive auch und mit definitiv anderem Anspruch die Shoa einrückt: "Diese Schienen. Gerade Linien für die Augen. Führten mitten ins Gas". Die Absicht dieser Sätze ist klar: Indem die in der Psychiatrie Einsitzende in diesen - und noch anderen - Worten die Judenvernichtung voraussieht, wird sie als eine Person von ungewöhnlicher Hellsichtigkeit ausgewiesen, ihre Abstempelung als krank mithin als ungerechtfertigt, als Verbrechen der Männerwelt bloßgestellt. Daß Elisabeth Reichart damit aber zugleich und gleichsam en passant einer grotesken Simplifizierung der Genese der Judenvernichtung das Wort redet, die - wohlgemerkt: von der Autorin und nicht von ihrer Hauptfigur, die von diesem Ereignis ja gar nichts wissen kann - als direkte Konsequenz eines auf Krieg und Vernichtung programmierten Patriarchiats erklärt wird, scheint sie nicht zu bemerken oder vielleicht sogar bewußt in Kauf zu nehmen. Ein Skandal, der freilich noch niemandem aufgefallen ist.

Frau Reicharts bislang letztes Buch, "Das vergessene Lächeln der Amaterasu", ist auch ihr bisher ambitioniertestes, ein veritabler Roman von über 300 Seiten. Der Text weist, zumal im ersten Teil, durchaus gelungene Passagen auf; solange er sich auf sein eigentliches Thema, den interkulturellen Konflikt zwischen den beiden Hauptfiguren, Alwina und Ichiro, konzentriert, weiß er sogar zu fesseln. Diese verhältnismäßige Stringenz, auch die Genauigkeit und die Dichte in der Beschreibung des fremden Japan, geht jedoch im zweiten und dritten Teil völlig verloren: Mit dem Auftritt des durch eine Gesichtsoperation zum Japaner verwandelten ehemaligen Wiener Nagoya, der eine fantastische Unterwasserstadt entwirft, um die vom Versinken Japans bedrohten Japaner zu retten und der Alwina als Assistentin für seinen rituellen Selbstmord benötigt, wird das Buch zur schlechten Kopie schlechter Trash-Filme, ohne daß die Einfälle und Wendungen hinreichend plausibel würden. Der Schlußteil, eine endlose Reflexion der nach Wien zurückgekehrten Alwina, ist ein Dokument von angestrengter Monomanie, in dem zudem die üblichen vermeintlich `heißenī Themen wie - einmal mehr - der Nationalsozialismus oder - jetzt ganz neu - die Gentechnik mit betont zeitkritischem Gestus, jedoch unsäglich gedankenarm anzitiert werden: "Prost - auf unsere gefühlfreie Zukunft in der Genfabrik, in der die Farben genauso lügen werden wie die Worte und die Bilder mich beherrschen werden wie jetzt die Dinge. Es ist ganz einfach, verrückt zu werden. Ich brauche nur die Farben zu verdinglichen, und nichts hindert mich mehr, mich in ein unbrauchbares Menschenmaterial zu verflüchtigen, viel zu fehlerhaft im Vergleich mit den Dingen, selbst die Sehnsucht nach Schönheit beweist dann einzig und allein meinen Makel, an den ich rettungslos verloren bin mit meiner unmanipulierten DNA." Als Roman ist "Das verlorene Lächeln der Amaterasu" schlicht gescheitert.

Anfang Mai absolvierte Elisabeth Reichart mit eben diesem Text eine Lesereise durch Spanien; auf Einladung der österreichischen Botschaft besuchte sie Santiago de Compostela und auch Salamanca, wo ich als DAAD-Lektor arbeite und - zusammen mit meinem österreichischen Kollegen Christof Totschnig - für die Abwicklung dieses Besuchs verantwortlich war. Es war für uns mehr als erstaunlich, von Frau Reichart zu erfahren, daß sie an einem ernsthaften Gespräch mit ihren Lesern überhaupt nicht interessiert ist. Sie formulierte dies freilich nicht in dieser Direktheit, sondern vornehm als poetologisches Bekenntnis zur Autonomie des Autors, der sich von seinem Publikum nicht abhängig machen dürfe. Daß sie mit dieser Stellungnahme ein durch und durch progressives Argument in sein Gegenteil, in ein Instrument zur Unterbindung kritischer Befragung und Selbstbefragung verkehrte, entging ihr freilich - ich vermute: Weil ein solcher Umschlag ein Charakteristikum auch ihrer Literatur ist. Diese erscheint zwar seit je als ein Ausbund von gedanklicher, literarischer und nicht zuletzt ethischer Progressivität: "Reicharts Prosa wird von einem moralischen Grundverständnis getragen, ohne direkt appellative Akzente zu setzen. Sie lebt vielmehr von der Hoffnung, über sprachkritische Schmerzimpulse Sensibilitäten zu schärfen und Entfremdungsformen kenntlich zu machen." (Thomas Kraft im "Kritischen Lexikon deutschsprachiger Gegenwartsliteratur") Eine genaue Lektüre der Texte zeigt jedoch, daß es sich anders verhält: Das sie angeblich tragende moralische Grundverständnis ist in Wahrheit aufdringlich inszeniert. Das Ergebnis ist eine Literatur, die zu den eigenen hehren Postulaten in Widerspruch gerät, die das Gegenteil von dem bewirkt, was sie intendiert: Die nicht sensibilisiert, sondern abstumpft, die, da bar jeder Selbstreflexion, nicht aufklärt, sondern - wenn auch unfreiwillig - Gegenaufklärung betreibt.

Ist sich die österreichische Industrie wirklich bewußt, wem sie da am 16. Mai ihren Preis verliehen hat?



nach oben



g-daf-es

Startseite - Página principal | Lektorate - Lectorados | Projekte - Proyectos | Lesen & Sehen - Ver & leer | Specials - Especiales | Links - Enlaces | Chancen - Oportunidades | Archiv - Archivo | Suche - Búsqueda | Sitemap - Mapa del sitio | Impressum - Acerca de ésta página |

letzte Aktualisierung: 8. März 2004
actualizada: 8 de marzo de 2004