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Special
Die Walser-Schirrmacher-Debatte
Erschienen: 1.6.2002; revidiert: 11.6.2002
(Alte Specials werden nicht aktualisiert; Links und Informationen auf dieser Seite können daher veraltet sein.)
Empfohlene Zitierweise:

Special: Die Walser-Schirrmacher-Debatte (erschienen: 1.6.2002; revidiert: 11.6.2002), in: g-daf-es <http://www.g-daf-es.net/lesen_und_sehen/specials/walser.htm>.

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Das Perlentaucher-"Link des Tages", das in diesem Fall längst ein Link (mindestens) der Woche ist, ist außerdem nicht ein Link, sondern eine umfangreiche Link- und Kommentarsammlung und wird täglich aktualisiert. Zudem hat der Perlentaucher inzwischen eine eigene Walser-Seite eingerichtet - alles, was die Möglichkeiten unseres Specials übersteigt, finden Sie dort!


Liegt es daran, dass die Stimmung aufgrund der "Möllemann-Krise" im Moment ohnehin empfindlich ist? Oder zeigt sich nur wieder einmal, dass eine Rückkehr zur "Normalität" in Deutschland nicht möglich, vielleicht auch gar nicht wünschenwert ist? Beinahe aus dem Nichts heraus ist um einen (noch nicht veröffentlichten) Roman von Martin Walser ein Streit entbrannt, in dem sowohl Antisemitismus-Vorwürfe als auch Warnungen vor leichtfertigem Umgang mit ebensolchen in großem Maßstab ausgeteilt werden. Angesichts der Fülle von Diskussionsbeiträgen, die die Feuilletons in den letzten drei Tagen hervorgebracht haben, ist allerdings schwer festzustellen, worum es in dem Streit eigentlich geht: Hat Walser einen antisemitischen Roman geschrieben, gegen den man Stellung beziehen muss (wie Frank Schirrmacher schreibt), oder hat er einen schlechten Roman geschrieben, der nun künstlich wichtig gemacht wird (wie die taz trocken kommentiert)? Setzt Walser seine Reihe von Fettnäpfchentreffern fort, um zu provozieren, ist er einfach naiv, oder ist das Ganze eine perfide Marketingstrategie? Und warum reagiert die FAZ jetzt so empfindlich, nachdem sie Walser bisher durch allerhand Krisen hindurch die Treue gehalten hat?

Die Ereignisse lassen sich jedenfalls wie folgt zusammenfassen: Am Mittwoch, dem 29.5.2002, lehnt FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher in einem offenen Brief an Martin Walser den Vorabdruck aus Walsers neuem, noch unveröffentlichten Roman "Tod eines Kritikers" ab, weil der Roman eine "Exekution", eine "Mordphantasie", ein "Dokument des Hasses" sei. Der Schlüsselroman rechnet, kaum verhüllt, mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki ab und zwar, wie Schirrmacher schreibt, nicht mit der (literarischen) "Ermordung des Kritikers als Kritiker [...]. Es geht um den Mord an einem Juden": "Verstehen Sie, daß wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, daß dieser Mord [d.h. die Ermordung während des Dritten Reichs, der Reich-Ranicki entgangen ist] fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?"

Walser äußert sich am folgenden Tag, dem 30.5., in Interviews mit der taz und der Welt (in denen er aber eine eher schwache Figur abgibt): Alleiniges Thema seines Romans sei "die Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens" (er kann sich also durch Schirrmachers Attacke bestätigt fühlen, auch wenn Schirrmacher ohne Fernsehunterstützung auskommt). Im übrigen äußere sich Schirrmacher selbst antisemitisch, wenn er behaupte, "Herabsetzungslust" und "Verneinungskraft", die im Roman dem Kritiker zugeschrieben werden, seien "jüdisch besetzte Wörter". (Schirrmacher spricht allerdings von einem "Repertoire antisemitischer Klischees", was vielleicht nicht ganz dasselbe ist.)

Marcel Reich-Ranicki, das literarische Opfer der literarischen "Hinrichtung", äußert sich zunächst nicht; nur in der NZZ wird er am 30.5. mit den Worten zitiert: "Es ist wirklich ungeheuerlich" und "So schlecht hat Walser noch nicht geschrieben". Inzwischen zitiert die FAZ seine Forderung, der Suhrkamp-Verlag solle den Roman nicht drucken.

Der Suhrkamp-Verlag schickt als Reaktion auf die Angriffe eiligst das Romanmanuskript an alle Redaktionen, damit wenigstens die Kritiker das Buch lesen können, ehe sie weiter darüber streiten. Für alle anderen veröffentlicht Die Welt einen Textauszug.

Zwar sieht sich die FAZ in ihren Antisemitismus-Vorwürfen von allen anderen Kritikeräußerungen bestätigt; tatsächlich gibt es aber zumindest eine gegenteilige Meinung: Thomas Steinfeld weist in der SZ vom 31.5. zunächst darauf hin, dass nach den Spielregeln der Literaturkritik ein Schriftsteller einem Kritiker stets unterlegen ist, ein fiktiver, literarischer Mord ihm also gestattet sein müsse. Antisemitisches findet er in Walsers Roman nicht, so dass er die Vorwürfe für Vorwände hält und zu dem Schluss kommt: "Was Martin Walser in diesen Tagen widerfährt, ist der Versuch eines politischen Rufmordes."

Die Mitte hält die taz. Am 1.6. schreibt Dirk Knipphals: "Und? Antisemitisch? Aus dem Kontext gerissen, können die Sätze in der Tat verfänglich wirken. Es gehört aber ein gehöriger Wille zum entlarvenden Blick dazu, um aus ihnen eine geschlossen antisemitische Darstellung herauszulesen. Manchmal ist so ein Blick ja von Vorteil, in diesem Fall aber hat er entdifferenzierende Effekte"; auf jeden Fall aber hält er (wie übrigens alle anderen Kritiker auch) Walsers Roman für schlecht.


Detaillierte Zusammenfassungen des jeweiligen Tagesgeschehens liefert wie immer der Perlentaucher: in den Feuilletonrundschauen vom 29.5., vom 30.5., vom 31.5., vom 1.6., vom 3.6., vom 4.6., und vom 5.6. (usw. - siehe das Archiv alter Perlentaucher-Feuilleton-Rundschauen) sowie im "Link des Tages" (mehrfach aktualisiert).


Und hier sämtliche Artikel (soweit sie im Netz zugänglich sind), nach Datum geordnet:

29.5.2002
FAZ (Schirrmachers offener Brief an Martin Walser)
FAZ (Walsers Reaktion)

30.5.2002
taz (Interview mit Walser)
NZZ (u.a. Reaktionen von Reich-Ranicki)
Die Welt (bescheinigt Walser eine "Lust an der Regression").

31.5.2002
taz (kurze Zusammenfassung des Geschehens)
FAZ (Pressestimmen zum Thema)
FAZ (weitere Stimmen, unter anderem Äußerungen von MRR)
Tagesspiegel (Hellmuth Karasek kommt zu dem Schluss: "Eine literarische Ermordung? Doch eher ein literarischer Selbstmord!")
SZ (Thomas Steinfeld wirft der FAZ "literarischen Rufmord" vor)
SZ (Walser über seine Roman-Hauptfigur André Ehrl-König)
SZ (Lothar Müller kommt zu dem Schluss: "Ein großer Roman ist aus der Abrechnung nicht geworden. Aber ein antisemitisches Machwerk ist dieser wütende Schlüsselroman nicht.")
SZ (Gustav Seibt über die "seltsame Ehe" zwischen dem Kritiker MRR und dem Schriftsteller Walser)
taz (Jan Feddersen über "Befindlichkeiten eines älteren Herren")
taz (Wiglaf Droste über Möllemann und Walser)
NZZ (Joachim Güntner über "Tabubruch und Tabuverlangen")

1.6.2002
FAZ (diverse Stimmen zum Streit)
SZ (eine Presserundschau zum Thema)
taz (Stefan Reinecke fordert Augenmaß: "FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher nennt Walser einen Antisemiten - und vice versa. Welches Wort bleibt dann für Horst Mahler?")
taz (Dirk Knipphals meint, der "entlarvende Blick", der die verfänglichen Sätze in Walsers Buch fokussiert, habe in diesem Fall "entdifferenzierende Effekte")
taz ("Schirrmacher über Walser": einige Zitate)
SZ (Gustav Seibt erläutert den "philologischen Kern" des Namens "Ehrl-König")
SZ (Willi Winkler über "Liebe, Hass und Fangenspielen")
NZZ (Martin Meyer fragt: "Welcher Furor bewegt den Meister vom Bodensee, ein solches Schauerstück zu richten?")
NZZ (Joachim Güntner macht sich Gedanken über den Suhrkamp-Verlag)

3.6.2002
taz (Detlef Gürtler meint: "Die FAZ wird durch die Vertrauensbrüche, die sie sich Verlag und Autor gegenüber leistete, nachhaltig beschädigt werden" und 'contragnostiziert', dass Schirrmacher seine eigene Demontage eingeleitet hat)
FAZ (der Suhrkamp-Verlag denkt darüber nach, was mit Walsers Buch geschehen soll)
FAZ (neue Äußerungen von Walser anlässlich einer Preisverleihung am Sonntag)
SZ (Lutz Hachmeister meint: "Der Topos Antisemitismus taucht inzwischen auf wie eine Schlammblase im Moorbad oder ein Pop-Up im Internet.")
SZ (Lothar Müller über die Frage, wie es nun weitergeht mit dem inkriminierten Buch)

4.6.2002
Beim Nachrichtensender n-tv hat Marcel Reich-Ranicki ein Interview gegeben, das auf der Homepage des Senders als Video abrufbar ist.

Der Perlentaucher sammelt Tag für Tag getreulich die Perlen aus den deutschen Feuilletons; aber die Walser-Schirrmacher-Suhrkamp-Ranicki-Debatte erfordert außergewöhnliche Maßnahmen. Also hat man in der Perlentaucher-Redaktion selbst zur Feder bzw. in die Tastatur gegriffen und einen Kommentar verfasst. Und der Perlentaucher-Kritiker Thierry Chervel hat in der Tat eine Beobachtung mitzuteilen, die an diesem Punkt der Debatte einer gelungenen Pointe gleichkommt: "Auch die Perlentaucher-Equipe konnte den Roman inzwischen lesen und musste feststellen: Er ist gar nicht antisemitisch!"

Heute abend gibt MRR im ZDF sein letztes "Reich-Ranicki Solo" vor der Sommerpause und äußert sich natürlich zum Thema (vielleicht stellt der Sender ja ein Video der Sendung ins Netz).

SZ (Jürgen Berger über eine Walser-Veranstaltung in Waldshut)
SZ (Thomas Steinfeld kritisiert den "blinden Gehorsam" des Literaturbetriebs)

5.6.2002
Nachdem MRR in seinem gestrigen Fernseh-Solo darauf hingewiesen hat, dass die SZ wohl nur deshalb dem Urteil der FAZ widersprochen habe, weil die SZ-Redakteure noch alte Rechnungen mit der FAZ offen haben, stellt der Perlentaucher in seinem "Chronologischen Inhaltsverzeichnis der Berichterstattung" jedem Walser-kritischen Urteil penibel ein Schirrmacher-kritisches Urteil gegenüber. Arno Widman kommt in der Rubrik "Vom Nachtisch geräumt" gar zu dem Schluss: "'Tod eines Kritikers' ist eines der besten Bücher nicht nur von Martin Walser. Es ist nicht damit zu rechnen, dass diesen Sommer noch ein Witzigeres, Böseres und Schöneres erscheint. Jedenfalls nicht von einem deutschen Autor. Vergessen Sie Reich-Ranicki. Er kommt nicht vor."

Weitere positive Walser-Besprechungen in der SZ: von Joachim Kaiser und von Gustav Seibt. In der taz macht sich Dirk Knipphals weiter Gedanken über den Suhrkamp-Verlag.

6.7.
Die ZEIT bringt Meinungen von Thomas Assheuer, Ulrich Greiner, Jens Jessen und Fritz J. Raddatz.
Die FAZ bringt ein Interview mit Robert Menasse; die NZZ warnt vor einer Verrohung der Gesprächskultur; und die taz und die SZ kommentieren die Entscheidung, Walsers Roman wie vorgesehen zu veröffentlichen.

7.6.
In der SZ meldet sich Jürgen Habermas zu Wort; und Gregor Hens berichtet, wie er die Causa Walser in Columbus, Ohio, mit seinen Studenten diskutiert. Ferner verwahrt sich die SZ mit einem Kommentar und einer Dokumentation gegen Reich-Ranickis Behauptung, allein jene SZ-Redakteure hätten sich zu Walsers Gunsten geäußert, die im Streit aus der FAZ-Feuilleton-Redaktion geschieden seien. In der NZZ äußert sich der österreichische Schriftsteller Robert Schindel.

8.6.
Die SZ druckt eine Wortmeldung von Ilse Aichinger sowie ein Dramolett zum Thema von Robin Detje. In der taz erörtert Elke Brüns Walsers "Phantasma eines kollektiven Körpers".

9.6.
Die NZZ am Sonntag bringt eine "Blütenlese des Reich-Ranicki-Hasses aus dreißig Jahren" (wie der Perlentaucher schreibt).

11.6.
Die SZ macht sich Gedanken über das literarische Genre des offenen Briefes. In der taz gibt es einen Bericht über Walsers Radio-Lesung aus dem Roman des Anstoßes (jeden Morgen 10.40 Uhr im Deutschlandradio, auch übers Internet zu hören: www.dradio.de). Auch Bodo Kirchhoff lässt einen Kritiker sterben; eine Meldung zu seinem "Schundroman" (das ist der Titel!) gibt es in der NZZ.

(1.6.2002; Aktualisierung 11.6.2002)

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letzte Aktualisierung: 8. März 2004
actualizada: 8 de marzo de 2004